Hamburg, den 20.06.2022
Offener Brief von Trägern der Migrationsberatung in Hamburg
Solidarität ist unteilbar!
Selektives Willkommen spaltet
Die gesellschaftliche Solidarität gegenüber den Geflüchteten aus der Ukraine, das politisch gewährte Bleiberecht nach §§ 24 AufenthG und die offenen Zugänge zu Sozialleistungen, zum Arbeits- und Wohnungsmarkt machen einerseits Hoffnung: Eine Aufnahmegesellschaft, die sich mit den vor Krieg und der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen fliehenden Menschen empathisch identifizieren kann, und Behörden, die sich als Dienstleistende auch für Geflüchtete verstehen und zur schnellen Integration dieser Menschen alle nötigen Ressourcen einsetzen – das könnte ein Modell für die generelle humane Willkommens- und Integrationspolitik gegenüber Geflüchteten in Deutschland sein.
Als Berater:innen und Träger der Migrationssozialarbeit machen wir derzeit in unserer Praxis die neue Erfahrung, was bei entsprechendem politischen Willen alles möglich ist bzw. von den Behörden konkret möglich gemacht wird.
Es ist richtig, dass Menschen in existenzieller Not kein repressives Asylverfahren durchlaufen müssen und in jahrelanger Aufenthaltsunsicherheit hängen gelassen werden. Es ist richtig, dass alles daran gesetzt wird, Massenunterkünfte zu vermeiden, um den Ankommenden eine würdige individuelle Bleibe zu ermöglichen. Es ist richtig, die Kinder schnell in die Schulen einzugliedern, den Erwachsenen Zugang zu Deutschkursen, zu Qualifizierung und geeigneten Arbeitsstellen zu bieten. Es ist richtig, Beratungs- und Hilfskapazitäten aufzustocken, um die Menschen bei der Bewältigung der vielen Schwierigkeiten zu unterstützen, und ihnen Zugang zur Krankenversicherung zu gewähren.
Leider hat diese durch staatliche Entscheidungen geförderte praktische Solidarität mit den ukrainischen Staatsangehörigen eine hässliche Kehrseite. Die im Prinzip begrüßenswerten integrativen Maßnahmen haben einen bitteren Beigeschmack für alle Teile der Bevölkerung, die eine antirassistische Perspektive einnehmen und somit eine selektive Solidarität hinterfragen.
Kriegsflüchtlinge und Geflüchtete aus Krisengebieten – Afghanistan, Syrien, Somalia, Eritrea, Iran, Irak … – gehören seit vielen Jahren zu den Ratsuchenden unserer Einrichtungen und zu den Teilnehmer:innen unserer Sprach- und Qualifizierungsangebote. Wir erleben, wie sich viele von ihnen nun erbittert fragen, warum Deutschland die Geflüchteten derart ungleich und mit zweierlei Maß behandelt. Diejenigen, die seit vielen Jahren in Deutschland um ein Bleiberecht, um eine Wohnung für die eigene Familie, eine Arbeitserlaubnis oder auch nur um eine respektvolle Behandlung durch die Behörden kämpfen, sehen sich nunmehr als Geflüchtete zweiter oder dritter Klasse diskriminiert und noch weiter in den Hintergrund gedrängt. Viele leben auch nach 10 Jahren noch in existenzieller Unsicherheit mit einer Duldung, mit Kindern in teilweise mangelhaften Sammelunterkünften und stehen trotz Arbeit und Ausbildung dennoch vor der Abschiebung.
Es darf nicht sein, dass aus der Ukraine flüchtende People of Color und Rom*nja an den Grenzen rassistisch diskriminiert werden und Drittstaatler:innen aus der Ukraine kein Bleiberecht in Deutschland erhalten und begründen müssen, warum sie nicht in ihr Heimatland zurückkehren können. Es darf nicht sein, dass die Jobcenter,
Ausländerbehörden, Wohnungsämter und Beratungsstellen die Anträge und Belange
der ukrainischen Geflüchteten prioritär behandeln (müssen!) und die anderen
Anspruchsberechtigten umso länger zu warten haben. Es darf nicht sein, dass
ukrainische Geflüchtete in Unterkünfte einziehen, aus denen andere Geflüchtete
vorher wegen der Bürgerverträge ausziehen mussten. Wenn die einen durch
behördliche Entscheidungen verdrängt werden, um den anderen Platz zu machen,
werden Menschen auf gefährliche Weise gegeneinander ausgespielt. Dass die
Ukraine ein europäischer Nachbarstaat ist und auch andere europäische Länder sich
nun durch den russischen Angriffskrieg bedroht sehen, kann nicht begründen, warum
Geflüchtete aus anderen Kriegs- und Krisengebieten in der Welt mit weniger Rechten
bedacht und nun noch stärker rassistisch diskriminiert und ausgegrenzt werden.
Die Doppelmoral in der staatlichen Willkommenspolitik stößt nicht nur lokal wie hier in
Hamburg auf. Die Tatsche empört uns zutiefst, dass Flüchtende an den Grenzen der
EU durch brutalste Pushbacks von griechischen oder polnischen Grenzpolizist:innen
unter den Augen und mit Billigung von Frontex zurück geprügelt werden, sich bei
Kälte und Hunger im Wald verstecken müssen, auf dem Mittelmeer oder dem Atlantik
ihr Leben riskieren und verlieren, in wilden Camps hausen müssen, die immer wieder
von der Polizei zerstört werden, oder in geschlossenen Lagern gefangen gehalten
und misshandelt werden. Europas Flüchtlingspolitik hat sich nicht geändert.
Vor kurzem noch vertraten die deutschen Parteien fast unisono, dass sich „2015“
nicht wiederholen dürfe. Wir wissen, dass sich die Normalität der Abwehr von
Geflüchteten – selbst um den Preis von Menschenrechtsverbrechen – und auch der
gewalttätige rassistische Hass von rechts mit der neuen politisch gewollten
Aufnahmebereitschaft für die Ukraineflüchtlinge nicht erledigt haben.
Wir widersprechen einer Hierarchisierung von geflüchteten Menschen auf
eurozentristischer oder gar rassistischer Grundlage, wie sie zu Beginn des
Ukrainekriegs in beschämender Weise mehrfach in den Medien geäußert wurde.
Flucht ist ein Menschenrecht. Solidarische Aufnahme, Ermöglichung sozialer
Teilhabe und Integrationsmaßnahmen von Anfang an, wie sie nun die ukrainischen
Geflüchteten immerhin so gut es geht erfahren, muss das Angebot der
Bundesregierung und der lokalen Behörden für alle Menschen in akuter Not sein.
Willkommenspolitik und Solidarität sind nur dann überzeugend und langfristig
belastbar, wenn sie allen Menschen gleichermaßen zugute kommen.
Durch die aktuelle Situation und den nahen Krieg in der Ukraine ergibt sich
zumindest die Chance auf einen politischen Lerngewinn in humanitärer Hinsicht und
auf den nötigen Schub für die Freigabe von mehr Ressourcen, die es zur Integration
der Ankommenden und der jahrelang Wartenden braucht.
BI Hamburg Süd gGmbH, IKB e.V., verikom gGmbH
Hier gibt es den offenen Brief noch einmal als pdf-Datei: Offener_Brief_20062022